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Forscher und Politiker setzen sich für Erhalt der Smartphone-Sprechstunde ein
Johanna Reschke und Otto Hosbach sind die Gesichter des Projektes VTTNetz, lächeln u.a. von 4000 Ratgeber-Heften, die in Beratungsstellen in ganz Deutschland ausliegen.
Dorette Schmidt aus Veckenstedt kommt regelmäßig in die Smartphone-Sprechstunde. Amüsiert ist sie über die Katze der Musterwohnung. Sie schnurrt und miaut wie eine echte, wird aber mit Batterien „gefüttert“.
Es ist Dienstag, 14 Uhr. Es klingelt. Eberhard Toepfer öffnet seiner Klientin Bärbel Wonde die Tür zur barrierearmen Musterwohnung der Wernigeröder Wohnungsgenossenschaft in der Kopernikusstraße 8 in Wernigerode. Bärbel Wonde zieht es seit vielen Monaten regelmäßig zur Smartphone-Sprechstunde in den WWG-Wohnblock aus den 1970er Jahren. Hat sie zu Beginn noch Wischen und Tippen geübt, geht es mittlerweile um Navigation mit einer virtuellen Karten-App.
Der ehrenamtliche Technikbotschafter Eberhard Toepfer reicht ihr ein kleines Ratgeber-Heft, das kürzlich im Projekt VTTNetz erschienen ist, und sagt: „Dort sind über 200 Produkte und Hinweise für ein komfortables Leben im Alter aufgelistet.“ Produkte, die die Temperatur messen und die Heizung automatisch steuern, die potenziell Stürze verhindern können, die Angehörige bei der Betreuung demenziell Erkrankter unterstützen oder die einfach Freude bereiten – so wie die Roboter-Katze, die Klientin Dorette Schmitt aus Veckenstedt auf der Couch im Wohnzimmer der WWG-Musterwohnung entdeckt hat. Fast alle Produkte aus dem Ratgeber-Heft sind in der Wohnung ausgestellt, können dort angefasst und ausprobiert werden. „Die ist ja witzig“, sagt Dorette Schmitt und streichelt die Katze, die beim Schnurren vibriert, sich auf den Rücken dreht. „Die Katze kann älteren Menschen, die sich nicht mehr eigenständig um ein lebendiges Haustier kümmern können, einen Schmuse-Moment schaffen“, erklärt Julia Angelov von der Hochschule Harz.
Es klingelt erneut. Sigrid Runschke ist auch in die Sprechstunde gekommen. „An wen soll ich mich sonst wenden? Ich möchte am Ball bleiben mit dem Smartphone, aber alleine würde ich mich bei all den englischen Begriffen nicht zurechtfinden. Ich bin froh, dass es die Smartphone-Sprechstunde gibt“, sagt sie, bevor Rolf Dörge ihr zeigt, wie sie ein Video in eine Messenger-Gruppe schickt.
Seit vier Jahren untersuchen die Mitarbeiter im Projekt VTTNetz an der Hochschule Harz unter der Leitung von Prof. Dr. Birgit Apfelbaum, wie ältere Menschen für Wohnberatung interessiert werden können und arbeiten dabei mit ehrenamtlichen Technikbotschaftern zusammen. Die wenigsten älteren Menschen sind bereit, sich auf das Alter bewusst vorzubereiten, zum Beispiel über den frühzeitigen Einbau einer bodengleichen Dusche, weiß Julia Angelov. „Doch ein Badumbau könnte Stürzen vorbeugen und verhindern, dass man in ein Pflegeheim umziehen muss“, betont sie.
Smartphone-Sprechstunde als "Türöffner" zur Wohnberatung
Weil sich kaum jemand eingestehen möchte, dass er alt geworden ist und Hilfe braucht, hat sich das Team einen Trick einfallen lassen. „Wir bieten etwas Modernes und Agiles an: eine Smartphone-Sprechstunde“, erläutert Kollege Martin Nowak. Die Nachfrage war von Beginn an überwältigend. Es gibt Wartezeiten über Wochen, sodass ehrenamtliche Botschafter wie Hartmut Kemmer beim Sozialverband Deutschland und im Frauenzentrum eigene Sprechzeiten anbieten. Fast 500 Smartphone-Sprechstunden fanden alleine in der barrierearmen WWG-Musterwohnung seit 2019 statt. „Es ist wissenschaftlich bestätigt, dass die Menschen, die hier in der Smartphone-Sprechstunde sitzen, ein Interesse an den Produkten entwickeln, die sich um sie herum in der Musterwohnung befinden“, sagt Julia Angelov.
Statistisch gesehen sprechen die Klienten in jeder dritten Smartphone-Sprechstunde auch über Barriereabbau in ihrer Wohnung, kommen auf neue Lösungen, die ihnen das Leben in den eigenen vier Wänden mit altersbedingten Problemen erleichtern. Dieser Trick hat Schule gemacht – bundesweit werden Smartphone-Sprechstunden als sogenannte „Türöffner“ für die Wohnberatung genutzt, um die Menschen schon frühzeitig zu sensibilisieren und informieren. Erst kürzlich haben Julia Angelov und Martin Nowak wieder für ein bundesweites Netzwerk einen Vortrag über die besondere Strategie aus Wernigerode gehalten. Julia Angelov hat darüber an der Hochschule Harz ihre Masterarbeit geschrieben.
Kooperationspartner als wichtige Grundlage des Erfolgs
„Ohne Bund und Land, die das wissenschaftliche Personal bezahlen und die Wohnungsgenossenschaft, die die Wohnung kostenfrei für diese soziale Forschung zur Verfügung stellt, ginge all das nicht“, sagt die Projektmitarbeiterin. Die Kooperation zwischen der Wohnungsgenossenschaft und der Hochschule hat sich als Erfolgsmodell erwiesen – beide Partner wollen daran festhalten, was bundesweit Aufsehen erregt. Gerade die reicheren, bessergestellten Bundesländer im Süden profitieren von dem Erfahrungsschatz aus dem Wernigeröder Modell zwischen Hochschule und Wernigeröder Wohnungsgenossenschaft. Denn dort ist Wohnberatung bereits Teil der staatlichen Daseinsvorsorge – es fehlt aber häufig an Ausstellungsfläche in Form einer altersgerechten Musterwohnung. In Wernigerode sind zwar die Wohnung, die Technik und die Mitarbeiter vorhanden – es fehlt allerdings das Geld. So wurde jüngst der Folgeantrag der Hochschule Harz im Bundesforschungsministerium abgelehnt. Und so endet zum 31. Dezember 2022 die Förderung und die Lichter drohen auszugehen in der barrierearmen Musterwohnung.
Doch es gibt gute Nachrichten: Fast alle Partner ziehen an einem Strang, um die Smartphone-Sprechstunde und die Wohnberatung samt Ausstellung zu erhalten. Und das wäre vorteilhaft für die gesamte Region: Die WWG-Musterwohnung ist die einzige Musterwohnung für Technik und Wohnen weit und breit. „Zu uns kommen Wohnberater aus Magdeburg, Hannover, Altenpflegehelfer aus Göttingen, Ehrenamtliche aus Osterode. Es gibt nichts Vergleichbares zu dieser Musterwohnung in Sachsen-Anhalt, Thüringen und Niedersachsen“, erklärt Julia Angelov, die Wohnberater in der Musterwohnung schult. Die Wohnung ist deshalb nicht nur Showroom für Technik und Wohnungsanpassung, Lernort für Senioren, sondern auch Bildungsstätte für Pflege und Kommunalmitarbeiter in nah und fern. „Wir haben die WWG-Wohnung virtuell in einem 360-Grad-Rundgang abgebildet und das Wissen mit Nachschlagefunktion über eine externe Datenbank gebündelt“, erläutert sie. „Bundesweit sind wir anerkannte Referenzstelle für Wohn- und Technikberatung.“ So ist die 36-Jährige seit 2021 stellvertretende Vorsitzende der Facharbeitsgemeinschaft Technikberatung in der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungsanpassung und steuert dort die bundesweite Vernetzung von Wernigerode aus mit.
Wernigerodes Oberbürgermeister macht sich für Projekt stark
"Wernigerode hat sich einen Namen gemacht – und dieses Engagement für ein würdevolles, gerechtes Leben im Alter fügt sich nahtlos in die Nachhaltigkeitsstrategie der Stadt Wernigerode ein“, sagt Julia Angelov. Das sieht auch Tobias Kascha so. Der SPD-Politiker, der im August den Staffelstab von Peter Gaffert (parteilos) im Rathaus übernommen hat, hat die WWG-Musterwohnung bereits im Juni besichtigt. „Ich kenne Genossenschaftswohnungen aus der eigenen Familie. Es ist spannend, wie man diese Wohnung für ein Leben im hohen Alter anpassen kann“, sagt der Oberbürgermeister. „Viele der Produkte in der Ausstellung kannte ich noch nicht.“ Besucher kommen in die WWG-Musterwohnung in Wernigerode aus dem gesamten Harzkreis. „Es ist wichtig, dass es diese Einrichtung gibt und ich werde mich für den Erhalt einsetzen“, bekräftigt er.
Dass sich der Landkreis Harz bislang völlig außen vor sieht bei der dauerhaften Finanzierung der Smartphone-Sprechstunde, überrascht Tobias Kascha. Gerade im Landkreis kommen die finanziellen Effekte der Wohnberatung an: So zahlt der Landkreis die sogenannten Kosten für Hilfe zur Pflege, wenn Ältere ihren Heimplatz nicht von der Rente bezahlen können. „Und diese Kosten steigen, weil Heimplätze immer teurer werden und Menschen immer länger einen Pflegeplatz beanspruchen“, erläutert Julia Angelov. Insofern sei es klug, in diesem Bereich vorausschauend zu investieren und die Menschen abzuholen und zu informieren, solange sie noch fit sind. „Es ist nebenbei auch Wunsch der meisten Älteren, so lange wie möglich in der eigenen Wohnung zu bleiben – wenig ist so emotional bedeutend wie die eigene Wohnung“, sagt sie. „Deswegen gehört es zu einem würdevollen Leben, in der eigenen Wohnung selbstbestimmt alt werden zu können.
Text: Julia Angelov